Mein aquatisches Tagebuch: Der Stör – ein lebendes Fossil mit Helgoländer Vergangenheit

Viele ältere Bewohnerinnen und Bewohner der Nordseeinsel Helgoland erinnern sich noch daran, dass den Fischern der Insel Ende der 1960er- Jahre ein spektakulärer und Aufsehen erregender Fang ins Netz ging: Ein über einen Meter langer, bräunlich-grau gefärbter, fünf Reihen von Knochenschuppen tragender Fisch, bei dem es sich um eines der letzten in der Nordsee vertretenen Exemplare des Europäischen Störs Acipenser sturio handelte.

Europäischer Stör Acipenser sturio
Foto: E. Hensel

Drei weitere Exemplare wurden noch gefangen, haben aber inzwischen das Zeitliche gesegnet und den Weg in eine Kühltruhe gefunden. 

Dem überlebenden Artgenossen ging es gesundheitlich sehr gut, lediglich Vitamine und gelegentlich ein Mittel gegen Arthrose wurden ihm zusätzlich zu seinem Futter verabreicht. Für diese gezielte Fütterung wurde eine spezielle Methode entwickelt, die gewährleistet, dass nur der Stör die Futterzusätze erhält: In einer rot gefärbten, circa anderthalb Meter langen Plastikröhre (Durchmesser etwa 5 cm) gleitete das Futter zum Boden des Beckens hinab. Durch leichtes Klopfen auf das obere Röhrenende wurde dem Stör akustisch signalisiert, dass gleich sein Futter am unteren Ende der Röhre für ihn zur Verfügung stehen wird. Inzwischen hatten dies aber nicht nur er, sondern auch andere Fische des größten Beckens des Helgoländer Aquariums gelernt, sodass bereits eine Wolke aus Fischen um das Rohrende versammelt war, wenn sich der Stör gemächlich näherte. Erst wenn er mit seinem rüsselartigen Maul das untere Rohrende erreicht hatte, wurde das Rohr ein wenig hochgezogen, wodurch das Futter für den Stör freigegeben wurde. Ebenso wie der Fisch gelernt hatte, dass das Klopfgeräusch Futter bedeutet, lehrte ihn die Erfahrung, die angebotene Nahrung zügig aufzunehmen, da sie sonst von den versammelten Konkurrenten vertilgt werden würde.

Die Hauptnahrung der Fische im Aquarium Helgoland bestand hauptsächlich aus Sprotten und Tintenfischen, die gefroren vom Großhändler bezogen werden. Zur Verfütterung der Vitamine und des Medikaments eigneten sich besonders gut Tintenfische, in deren Körperinneren nach dem Auftauen die Futterergänzungen „versteckt“ werden konnten. Nach erfolgreicher Fütterung wurde die Röhre aus dem Becken entfernt, und alle Fische konnten sich nun wieder den im Becken verteilten Sprottenstückchen widmen. 

Der Europäische Stör zeichnet sich durch vier in einer Reihe vor dem Maul stehenden Barteln aus. Diese weisen ihn als Nahrungsspezialisten aus, der sich bevorzugt von am Grund lebenden Organismen (Benthos-Organismen) ernährt. Dazu zählen auch verschiedene Wattwürmer, die im Mündungsdelta der Gironde an der französischen Atlantikküste Vorkommen, wo es die letzte noch verbliebene Population dieser Fischart gibt.

Wie schon der Name vermuten lässt, war diese Art ursprünglich in nahezu ganz Europa verbreitet, und zwar sowohl in dessen Meeren als auch deren Zuflüssen. Als migratorischer Fisch wandert diese Art bis zu 1000 km die Flüsse hinauf. Es gibt historische Quellen, die berichten, dass die Tiere sogar bis in die Havel bei Potsdam gelangt sein sollen. Über kiesigem, strömungsreichem Grund laichen die erwachsenen Tiere ab, um anschließend sofort wieder ins Meer zurück zu kehren. Die geschlüpften Jungfische brauchen für ihre Wanderung bis zur Flussmündung hingegen ca. 3,5 Jahre, bevor sie dann ebenfalls im Meer leben. Es gibt aber auch Störarten, wie den Sterlet Acipenser ruthenus in der Donau, die ausschließlich im Süßwasser leben. 

Wegen seines speziellen Futtersuchverhaltens, bei dem er mit seinen Barteln sorgfältig den Boden abtastet, benötigt der Stör zum Auffinden und zur Aufnahme der Nahrung länger als andere Fische, die sich gezielt auf die Beute stürzen. Daher wurde im Aquarium darauf geachtet, dass das Futter in ausreichender Menge auf den Boden gelangte, damit auch der Stör „satt“ wurde. 

Neben seiner besonderen Ernährungsweise zeigt der Europäische Stör aber noch weitere Besonderheiten: Evolutionsgeschichtlich handelt es sich um eine „alte“ Fischart, die bereits zu Zeiten der ersten Dinosaurier vor etwa 200 Millionen Jahren auf der Erde lebte. Diese Urtümlichkeit zeigt sich auch in der Anatomie dieses „lebenden Fossils“. So fehlen dem Tier etwa die Gräten (Knochen) der höher entwickelten „echten“ Knochenfische (Teleostei), zu denen zum Beispiel der Wolfsbarsch (Dicentrachus labarx) oder der Dorsch (Gadus morhua) zählen, die sich ebenfalls im Arenabecken befinden.

Außerdem besteht die Wirbelsäule des Störs aus Knorpel, und er besitzt sehr ursprüngliche, hauptsächlich aus einer zahnschmelzähnlichen Substanz bestehende sogenannte Ganoidschuppen. Deswegen wird er in die Gruppe der Knorpelganoiden (Chondrostei) eingeordnet. Auf die echten Knochenfische weisen aber bereits fünf Reihen aus Schuppen hin, die aus Knochensubstanz bestehen. Zwei Schuppenreihen befinden sich auf der Bauchseite, weitere zwei seitlich am Körper und eine auf dem Rücken. Die Anzahl der Schuppen ist artspezifisch, der Europäische Stör besitzt 24 bis 40 Knochenschuppen pro Reihe. Aber nicht nur seine Anatomie, sondern auch seine Vermehrungsbiologie weist den Stör als einen ganz besonderen Fisch aus: So wird der Europäische Stör erst sehr spät geschlechtsreif, Männchen im Alter von 6 bis 8 Jahren und Weibchen zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr. Hinzu kommt, dass geschlechtsreife Männchen sich alle zwei Jahre, Weibchen aber nur alle vier Jahre fortpflanzen können. Ja – es gibt sogar Individuen, die ihrem Alter nach längst geschlechtsreif sein müssten, aber dennoch nicht vermehrungsfähig sind. Ein besonderes Problem für die Störzucht in Aquakultur ist die Tatsache, dass sich die Geschlechter äußerlich nicht unterscheiden. Auch im Aquarium Helgoland wusste man nicht, ob der Europäischer Stör ein Männchen oder ein Weibchen war. Eine Biopsie oder eine Untersuchung mit Ultraschall hätten hier Aufklärung bringen können, in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters des Fisches wurde aber darauf verzichtet. 

In der Störaquakultur sind die genannten Verfahren ebenfalls zu aufwendig, sodass nach alternativen Methoden geforscht wird. Eine Möglichkeit der Geschlechtererkennung und -trennung bestünde in der bioakustischen Auswertung der Laute, die die Störe von sich geben. Denn in der Störzucht werden wegen des Kaviars bevorzugt Weibchen gewünscht.

Auch aus diesem Grund war der Europäische Stör in den deutschen Gewässern bereits in den 1930er- Jahren nach etwa 50-jähriger Befischung fast völlig verschwunden. Denn nach den großen Männchen waren zunehmend auch die geschlechtsreifen Weibchen und Jungtiere gefangen worden, die für den Fortbestand der Population von besonderer Bedeutung sind. Hinzu kam die Wasserverschmutzung und die Verbauung der Flüsse, die die Fische daran hinderte, ihre Laichgründe oberhalb von Wehren und Staudämmen zu erreichen.

Die Nachfrage war zu dieser Zeit so hoch, dass in Hamburg auf dem Fischmarkt eine eigene Halle für den Verkauf von grätenlosem Störfleisch und Kaviar gebaut wurde. Und sogar in die Arbeitsverordnung der Hamburger Hausmädchen fand der Stör Eingang; in ihr bestanden die Bediensteten darauf, höchstens zweimal die Woche Störfleisch essen zu müssen. 

Heute gilt der Europäische Stör Acipenser sturio in Deutschland als ausgestorben, und in der Washingtoner Artenschutzliste rangiert er in der Kategorie stark gefährdeter Tierarten. Glücklicherweise ist es französischen Wissenschaftlern bei Bordeaux nach über 30-jähriger Forschung vor wenigen Jahren gelungen, eine große Zahl an Jungfischen in Aquakultur zu züchten. Sie bilden die Grundlage für Wiederbesatzmaßnahmen sowohl in der Gironde, als auch anderen europäischen Flüssen, wie beispielsweise der Elbe und der Oste in Deutschland. Vielleicht kann in einigen Jahrzehnten sogar wieder Stör in der Nordsee gefischt werden.

Der Stör des Helgoländer Aquariums war zuletzt etwa 50 Jahre alt und zog seit über 40 Jahren seine Bahnen durch das größte Becken des Helgoländer Aquariums – das Arenabecken. Er könnte bis zu 100 Jahre alt, 6 Meter lang und bis zu 600 Kilogramm schwer werden. Diese enormen Körpermaße werden nur noch vom Belugastör Huso huso (auch Europäischer Hausen genannt) übertroffen, der eine Länge von 10 Metern und ein Gewicht von 1000 Kilogramm erreichen kann, und damit der größte Süßwasserfisch in der nördlichen Hemisphäre ist. Inzwischen ist auch bekannt, dass Tiere in Gefangenschaft sogar noch älter werden können als in der Natur.

Der Stör des Helgoländer Aquariums war trotz des hohen Wachstumspotenzials der Art mittlerweile wohl ausgewachsen. Seine Größe stand in einem angemessenen Verhältnis zur Beckengröße, sodass eine artgerechte Haltung gegeben war. Ein längerer Transport zu einem größeren Aquarium wäre wegen des hohen Alters des Tieres mit enormen gesundheitlichen Risiken verbunden und daher nicht empfehlenswert. Dies gilt auch für eine Auswilderung, da ungewiss ist, ob das Tier sich im Meer selbstständig ernähren könnte. Dieser Stör war von so großer ideeller Bedeutung, dass er nicht aus der Obhut hätte entlassen werden sollen. Im Aquarium Helgoland wies er die Besucher beispielhaft auf das Problem des Artenverlustes und die Bemühungen der Forschung um den Erhalt und die Zucht gefährdeter Arten hin.

Autor: Dr. Emanuel Hensel

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